Gibt es sie, die vererbte Rudelstellung?
Es ist einfach faszinierend. Je länger wir mit Hunden leben, je besser wir meinen, sie verstehen und lesen gelernt zu haben, und umso mehr wir nach mehr Informationen zu oder über die so fremde Spezies lechzen, umso unverständlicher kann sich genau dieses Lebewesen für uns zeigen.
Nun haben wir im Laufe der Zeit ja schon mal gelernt und wollen es auch nach außen kommunizieren: Nein, wir sind kein Rudel (natürlich gibt es Ausnahmen!); wir leben als Verband miteinander – zusammen. Ja, das haben wir nun verstanden und sind also auch ganz stolz darauf, auf das richtige Vokabular zurückzugreifen.
Mit allen freudigen Erkenntnissen zu unseren Hunden werden wir natürlich auch offener für weitere Informationen zu den Vierbeinern und möchten uns selbstverständlich auch weiterbilden.
Ja, und dann plötzlich lesen wir von Leithund, Bindehund und sehen uns vor Abkürzungen, deren Bedeutung wir zunächst erstmal googlen müssen.
Wir lesen:
- VLH – Eckhund – Vorrangiger Leithund
- V2 – Bindehund – vorrangiger 2. Bindehund
- V3 – Bindehund – vorrangiger 3. Bindehund
- MBH – Eckhund – Mittlerer Bindehund
- N2 – Bindehund – nachrangiger 2. Bindehund
- N3 – Bindehund – nachrangiger 3. Bindehund
- NLH – Eckhund – Nachrangiger Leithund
Ja, prima und irgendwie sitzen wir davor und denken: Mist, was ist das denn? Noch nie gehört. Oh Gott – ich habe gar keine Ahnung!
So fangen wir an- ganz langsam -, uns mit auch dieser Materie vertraut zu machen und lesen plötzlich von vererbter Rudelstellung. Wir lesen, welche Hunde zusammenleben müssen, um entspannt miteinander leben zu können oder überhaupt in der Lage sind, ohne Probleme ihr Leben zu bestreiten. Wir lernen, dass man zunächst den einen Hund begutachten lässt, um herauszufinden, welche Stellung denn der eigene Hund hat (von Geburt wohl bemerkt an!), um dann entsprechend zu diesem einen passenden Stellungshund auszusuchen. BAHNHOF! Und plötzlich haben wir doch wieder ein Rudel?
Genau, es ist schon etwas schwierig, sich in diese Materie einzuarbeiten und sie zu verstehen. Denn nun werden wir unter anderem über typische Verhaltensauffälligkeiten der einzelnen Vorrang -und Nachrang- Stellungen informiert und darüber aufgeklärt, warum sie entstehen. Auch, wie es Eckhunden und Bindehunden ergeht; stellungsfeste, stellungsfähige und stellungslose Hunde werden unter die Lupe genommen.
In dieser Thematik tauchen dann immer 3 gleiche Namen auf. Einer soll es entdeckt haben, die andere schon als Jugendliche diese Rudelstellungstheorie bestätigt haben können, die dieses Thema fast wie ein Kult betreibt und betet, und eine andere Dame wiederum, die mit der Wissenden zusammenarbeitet und diese Therorie um RS bestätigt, aber einräumt, selbst die Fähigkeit, Hunde so einzuschätzen nicht innezuhaben.
Die Rudelstellungstheorie basiert auf einer Idee, nämlich, dass Hunde für Aufgaben im Rudel die Voraussetzungen von Geburt an mit sich bringen. Fähigkeiten und Schwächen gilt es zu entdecken und im Alltag zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass weniger Druck und Einwirkung als Hundehalter auf den Hund ausgeübt werden muss. Resultierend haben zwei oder mehr zueinander passende Hunde die Möglichkeit, sich rudelähnlich zu organisieren und davon zu profitieren, indem sie untereinander eine entsprechende Hierarchie aufbauen und aufrechterhalten.
Wenn ich mich also mit der vererbten Rudelstellung oder mit dieser ganzen Rudelstellungstheorie näher beschäftige, in ihre Tiefe versuche, einzudringen und auch zu verstehen, frage ich mich ernsthaft, was wir armen Menschen noch vor 20 bis 40 Jahren gemacht haben. Ich frage mich, wie konnte es Lessy und Co. gut gehen, wo wir Menschen doch anscheinend so gar nichts von Hunden verstanden und demnach ja wohl heute auch noch nicht.
Da der Trend nun mal schon seit geraumer Zeit zur Mehrhundehaltung geht, ist natürlich der Markt von so genanten Wissenden offen für vorprogrammierte Probleme. Diese schreien förmlich nach mainstream – Lösungen.
Ich möchte gar nicht abstreiten, dass gerade auch in der Mehrhundehaltung eine Struktur und Hierarchie besteht, auch nicht, dass es tatsächlich Hunde gibt, die man versucht zu vergesellschaften, sich aber nicht miteinander verstehen und es manchmal dazu führt, dass einer der Hunde diesen Verband verlassen muss. Auch ist es üblich, und das ist auch gut so, dass man einen vorhandenen Hund im Grunde immer zu dem neu im Verband aufzunehmenden Hund mitnimmt, um zu schauen, ob die beiden sich im besten Falle neutral zueinander verhalten.
Jedoch geht es mir persönlich zu weit, wenn eine Dame, die solche Seminare durchführt, den Menschen ans Herz legt, einen oder zwei Hunde aus dem Verband zu entlassen und nach anderen Hunden Ausschau zu halten. Auch finde ich es etwas zu weit gehend, dass nach einer Begutachtung und Einteilung eines Hundes dazu nicht nur geraten, sondern gedrängt wird, einen Hund einer speziellen Stellung dazuzuholen, da der erlauchten Meinung nach, der Hund unbedingt einen anders stelligen Hund braucht, damit er sich frei entfalten und konfliktlos leben kann.
Der heutige Seminarwahn, das verlorene Bauchgefühl und die Überflutung von im Internet gestreuten all-möglichen Theorien zur perfekten Hundeführung, lassen die Menschen ein wenig den Blick auf das Wesentliche verlieren und ja, verlieren scheint das richtige Wort zu sein – sie verlieren sich in all den Möglichkeiten, alles richtig machen zu müssen/ können.
Ich möchte die Rudelstellungstherorie nicht verteufeln oder ablehnen, aber Sie, sehr geehrte Leser, darum bitten, sich mit wirklich klarem Verstand dieser Thematik anzunähern und nicht, wie es leider doch einige bereits tun, sektenartig zu unterwerfen.
Wie bei allen Therorien, gerade in der Hundehaltung, kann man wohl das eine oder andere mitnehmen, aber nur nach bestimmten Vorgaben, die von einer Seite propagiert wird zu handeln, erachte ich als nicht nur falsch, sondern zum Teil auch mehr als fragwürdig, manchmal auch gefährdend.