Natürliche Aggression des Hundes
Kein anderes Verhalten des Haushundes wird so oft falsch ausgelegt und interpretiert, wie die natürliche Aggression.
Es ist ein stark wissenschaftlich geprägtes Thema, ich hoffe ich schaffe es, dies nicht so trocken rüberzubringen.
Manchmal werden schon bellende Hunde pauschal als aggressiv eingestuft.
Sicher aufgrund von fehlender Fachkompetenz durch Sensationsjournalismus und der Politik.
Tatsächlich besitzt jeder Haushund ein individuelles natürliches Aggressionspotenzial.
Das Formen und Kontrollieren der natürlichen Aggression, liegt ausschließlich in der Verantwortung des Menschen. Unabhängig von dem Alter, den bisherigen Erfahrungen des Hundes oder dessen Rassezugehörigkeit ist diesbezüglich sein unmittelbares menschliches Umfeld gefragt und gefordert.
Über den Beginn der Domestikation des Haushundes wird viel diskutiert.
Es gibt allerdings Belege (Knochenfunde) dafür, dass ein morphologisch wolfsähnlicher Hund vor ca 35 000 Jahren mit dem Menschen nach Europa kam.
Allerdings waren unsere Urahnen nicht in der Lage, ein solch (für seine Zeit) jochentwickeltes Säugetier wie den Wolf zu domestizieren.
Mit der sehr viel späteren Domestikation wurden dann die Hunde entsprechend der Anforderungen des jeweiligen Nutzungsbedarfs (Schutz, Jagd) gezüchtet.
Aufgrund dieser Domestikation des Hundes durch den Menschen hat der Haushund als einzige Spezies eine ausgebildete Interpretationsfähigkeit menschlicher Zeichen.
1. Natürliche Aggression des Hundes (Vererbung)
Der Hund ist, trotz Domestikation, bis heute nach wie vor auf den hierarchisch strukturierten Gruppenverband geprägt. (Das Rudel)
Es ist eine geschlossene Gruppe von Individuen mit einer, gegenüber dem einzelnen Individuum gruppenbedingt gesteigerten Effizienz. (Das Überleben wird durch den Zusammenschluss gesichert).
Das Rudel stellt meist einen Familienverband (also Verwandschaftsverhältnisse zur natürlichen Erhaltung der Art) mit eindeutig definierten Positionen und Aufgaben jedes einzelnen Individuums dar.
Wird der Hund nun aus seiner Spezies genommen und in einem menschlichen Verband “adoptiert”, gibt es für diesen keine spezielle Mensch-Hund Beziehung, sondern er erkennt schlicht ein Rudel, mit ebensolchen Hierarchien und Strukturen.
Genetisch bedingt wird er nun versuchen, sich dem Rudel (zur Absicherung) anzuschließen. Dabei folgt er seinen natürlichen Instinkten und wird seine Anforderungen an das Rudel entsprechend einfordern.
Es ist natürlich, dass er – nach seinen Möglichkeiten – versuchen wird, das Rudel entsprechend seiner Vorstellungen (Effizienz der Individuen-Infragestellung der Hierarchien) zu gestalten.
Demenstrechend besitzt der Hund (aber auch alle anderen Spezies des Tierreichs) ein natürliches artspezifisches Aggresssionspotenzial.
Aggressives Verhalten ist ein ursachenbedingtes Verhalten und wird nicht vererbt.
Genetisch vererbbar ist lediglich ein natürliches Reaktionsverhalten auf diverse Umweltreize.
Verhaltensbiologisch betrachtet, spielt vor allem die sensible Prägephase (3.-18.Woche) in der Jugendentwicklung eine entscheidende Rolle.
In dieser Zeit ist der Welpe sehr aufnahmebereit für soziale Kompetenzen.
Er erlernt die Spielregeln im Zusammenleben eines Familienverbandes und auch den Umgang mit seinen natürlichen aggressiven Instinkten.
(Droh-, Angriffs-, Verteidigungsstrategen, welche den essentiellen Konfliktlösungen im Rudel dienen.
Die Prägung findet ausschließlich in diesen ersten Lebenswochen des Hundes statt.
Die Fähigkeiten, seine natürlichen Instinkte hinsichtlich Sozialverhalten, Reaktionen auf Umweltreize sowie hierarchischer Ordnung zu “sortieren”, erfolgen in dieser Phase – Versäumnisse können gar nicht bzw. nur unzureichend ausgeglichen werden.
Grundlegende Sozialpartner:
- Elterntiere
- Wurfgeschwister
- andere Rudelmitglieder (zB ältere Geschwister)
- “Züchter” und “Pfleger”
- neuer Rudelverband (Adoptiveltern)
In dieser Zeit entwickelt sich auch seine Lernkapazität und Lernfähigkeit.
Diese Prägung bestimmt zum größten Teil sein künftiges Leben, sein “Denken”, seine “Empfindungen”, seine “Einschätzungen” und sind später, nur schwer zu korrigieren.
Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass bestimmte Hunderassen (aufgrund der Vererbung) aggressiver sind als andere.
2. Natürliche Aggression des Hundes (Sozialverhalten)
Der Hund ist geprägt auf die Sozialstruktur innerhalb eines Rudels, die auf Kooperation mit einem hierarischen System angewiesen ist.
Er zieht seinen individuellen Nutzen (Futteranteil, Schutz, Fortpflanzung) aus dieser Verbindung.
Damit ist ein Konkurrenzverhalten unter den Inividuen durchaus Normalität.
Das gleiche gilt uneingeschränkt auch für die Rudelkonfiguration Mensch-Hund.
Das signifikanteste Verhalten von Wölfen und Hunden ist ein teils kompliziertes,Droh-Kampf-und Beschwichtigungsverhalten.
Daraus entsteht eine soziale Hierarchie.
Man kann dies durchaus als aggressive Kommunikation bezeichnen – allerdings ist der Kampf eine sehr viel höhere Aggressionsstufe innerhalb dieser komplexen Kommunikationsform.
Stehen sich zwei augenscheinlich gleichrangige Hunde gegenüber, kommt es zuerst zu Kommentkampfaktionen.
Psychisch gesunde Hunde mit einer zumindest “normalen”, also arttypischen Aufzucht, gehen in diesen vorhersehbaren und ritualisierten “Kampf”, der eigentlich ein psychisches Kräftemessen ist.
Die Abfolge von Verhaltensweisen – Zurschaustellung der eigenen Kraft, des eigenen Status und der Geschicklichkeit – und damit Siegessicherheit – laufen automatisch ab ohne, dass es zu Verletzungen kommt. Oft sogar nichtmal zu Körperkontakt.
Studien an wild lebenden Caniden und Canidenforschung unter Gehegebedingungen haben gezeigt, dass keinesfalls die stärkeren überleben, sondern die am besten angepassten (an die Umwelt, an die Konkurrenz), dazu zählt auch die Fertigkeit, der feinen sozialen Taktik.
Jede aktive Kampfhandlung (Beschädigungskampf) bedeutet ein erhebliches Verletzungsrisiko, sowie körperliche Schwäche. Daraus resultiert meist eine Schwächung des gesamten Rudels.
Der Hund, der die rituelle Darstellung einerseits von Kraft und Überlegenheitt, aber auch Beschwichtigung und damit Stressminderung beherrscht, erhält sich seiner Kraft, Konstitution sowie seinen Rang und damit verbundenen Ressourcen.
Bleibt der Kommentkampf aber ohne Erfolg (Gegner unbeeindruckt), so eskaliert er und es folgt der Beschädigungskampf.
Kurz: Caniden (von gesunden, ausgehend) setzen sich in erster Linie nicht durch Beißereien durch, sondern es gibt einen Vorlauf von beschwichtigenden, drohenden oder imponierenden Abläufen.
Es ist eine stete Abwägung zwischen Sinn und Nutzen – z. B. Wertigkeit der Ressourcen (wie Futter, Belegrecht eine brünstigen Hündin usw.) zum Risiko.
3. Natürliche Aggression des Hundes (Bedrohungsfall)
Hunde schätzen Situationen nach (subjektiver) Bedrohlichkeit ein.
Dies muss nicht den menschlichen Maßstäben entsprechen, der Bedrohungsvermutung des Hundeführers.
Es können für uns banale, harmlose Situationen sein, die der Hund völlig anders einschätzt und sein natürliches Aggressionsverhalten auslösen.
Eine Situation:
Ein Radfahrer fährt (fast) frontal auf einen angeleinten Hund zu.
Ein Hund mit einem schlechten Gesundheitsstatus, Verunsicherung aufgrund einem fehlendem Vertrauensverhältnis im menschlichen Umfeld oder fehlenden Kenntnissen über Abläufe und Hierarchien. Nicht zu vergessen einer fehlenden Ausbildung, die auch Sicherheit gibt (geben sollte) – ein Hund in einem der Zustände oder einer Kombination daraus, kann diese Situation vielleicht nicht einschätzen.
Die annähernde frontale Annäherung wird als individuelle Bedrohung eingestuft. (artspezifisches natürliches Verhalten)
Der Radfahrer kommt näher und unterschreitet kontinuierlich die Fluchtdistanz des Hundes. Fühlt sich der Hund bedroht, hat er mehrere Möglichkeiten darauf zu reagieren.
Je nach Charakter und Einschätzung der Effiziens wird der Hund eine Flucht in Erwägung ziehen. (Wiederherstellung einer sicheren Distanz)
Der Hund kann aber angeleint nicht flüchten und der Radfahrer kommt immer näher. Manche Hunde reagieren panisch an der Leine und versuchen verzweifelt weg zu kommen
Einige Hunde erstarren in einer Situation, in der sie nicht fliehen können.
Erstarren ist nicht unbedingt eine typische Verhaltensweise eines Beutegreifers wie dem Hund. Das Erstarren dient eher dazu, dass ein Tier vom Beutegreifer bzw. der Bedrohung optisch nicht wahrgenommen wird oder auch zur Beschwichtigung.
Nur wenig angstaggressive Hund werden aufgrund der geringen Distanz und der steten Annäherung, sich für das Erstarren entscheiden.
Gelegentlich greift ein Hund auch zu Übersprungshandlungen, zum eigenen Stressabbau (z. B. sich kratzen) oder zu einem Beschwichtigunsversuch.
Doch es bereinigt nicht die Situation, die Bedrohung kommt immer näher.
Die letzte Option ist nun das offensive Verhalten!
Die Erfahrung und Prägung des Hundes werden nun den Grad bzw. den Verlauf der Aggression bestimmen.
Entweder soll die Bedrohung wieder auf sichere Distanz gebracht werden (z. B. durch Abwehrschnappen) oder aber auch neutralisiert werden.(Beschädigungskampf)
Der Hund zeigt meist aggressives Distanzdrohen (Drohung ohne Körperkontakt) – z. B. Fixierung des Radfahrers und oft auch tiefes Knurren.
Die Ausgangslage:
- Der Hund ist mit dieser Situation völlig überfordert
- Es besteht kein signifikantes Vertrauensverhältnis zwischen dem Führer und dem Hund
- Der Hund ist keinem hierarchischen Familienverband wirklich angeschlossen
Was im Hund vorgeht:
Mit Aufnahme des Distanzdrohend hatte er dem Radfahrer gezeigt, dass er erstmal nicht weichen wird (in diesem Fall auch nicht kann).
Alle Kommentaktionen werden vom Radfahrer nicht beantwortet, sondern er zeigt in den Augen des Hundes die Bereitschaft zur ungehemmten Aggression, durch seine kommunikationslose fortgesetzte Annäherung.
Erst dadurch kommt der Hund in eine höhere Aggressionstufe.
Wenn der Halter nicht umgehend mit Deeskalationmaßnahmen reagiert oder dies zu langsam oder unzulänglich tut, geht der Hund nach vorne in die Leine, wobei er seinerseits ebenfalls gesteigerte Aggressionsbereitschaft signalisiert.
In dieser Situation zeigte es sich oft als hilfreich, den Hund körperlich zu fixieren und den Sichtkontakt zur Bedrohung zu unterbrechen.
Die Hauptarbeit liegt im Vorfeld. Bindung und Vertrauen sowie Selbstsicherheit und Gewöhnung an die Reize sind unabdingbar.
Der Ablauf in der Radfahrersituation ist auch in anderen angstauslösenden Situationen (Hundebegnungen, Geräusche, Familienleben usw.) der gleiche.
Wie schon oben geschrieben, wird der Hund nach seinen bisherigen Erfahrungen handeln – diese kann man neu besetzen.
Diese, hier vorgestellte Abwehr-Aggression ist natürlich und höchstens eine moderne Verhaltensauffälligkeit, die durch Defizite der Menschen entstanden sind.
Deshalb auch meine Einschätzung zu Wesentests von sogenannten Listenhunden:
Das Ergebnis sagt nichts über den Hund aus, sondern über die Fähigkeiten der prägenden Tiere und Menschen in seinem Leben.
4. Natürliche Aggression des Hundes (Die Stufen der Aggression & Zusammenfassung)
Die erste Stufe:
Distanzdrohen: fixieren, Zähneblecken, knurren
Die zweite Stufe:
Körperkontakt: über die Schnauze beißen, Ringkampf
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit: Schieben, Querstehen, Aufreiten
Die dritte Stufe:
Gehemmte Beschädigung: Anrempeln, Anspringen, Vorstoßen, gehemmtes Abwehrheißen, gehemmtes Beißen (Intentionales Beißen),i n die Unterwerfung zwingen, Distanzunterschreitung
Die vierte Stufe:
Ungehemmte Beschädigung: Beißen, Schütteln
Zusammenfassung
Es gibt keine gefährlichen Hunderassen, es gibt gefährliche Individuen.
Aggressives Verhalten ist durchaus Teil des normalen Verhaltens eines Hundes.
Einzig dem Sozialpartner Mensch ist es möglich, dieses Aggressionspotenzial bewusst oder unbewusst über das natürliche Aggressionsverhalten hinaus zu steigern.
- Bewusste Steigerung: Gezielte Dressur – gezielte Zuchtauswahl besonders aggressiver Tiere
- Unbewusste Steigerung:Erziehungsfehler – falscher, nicht artgerechter Umgang – Massenzucht und damit Vernachlässigung des Individuums
Unnatürlich aggressive Hunde haben niemals gelernt, in artgerechter normaler Weise (Kommunikative Interaktion) auf Artgenossen oder Menschen zu reagieren.
Es sind keinesfalls “böse” Hunde, sondern verunsicherte.
Ein unsicherer Hund sieht oft Bedrohungen und reagiert schneller mit Abwehraggression als ein selbstsicherer.
Auch Stressreaktionen entstehen durch Angst und Überforderung.
Je mehr “Fehler” im Leben eines Hundes gemacht worden (egal ob vom Halter selbst,v om Züchter oder vom Vorbesitzer), je schlimmer die Erfahrungen, desto länger dauert die Integration und der Aufbau einer echten Bindung.
Bei jeder, für ihn als bedrohlich bewerteten Situation, muss er artgerecht korrigiert werden und den normalen Umgang solch einer Situation erlernen.